Herr A.N. wurde 1974 in der bulgarischen Stadt Burgas geboren. Mit ca. 200.000 Einwohnern ist Burgas, die Heimatstadt von A.N., die viertgrößte Stadt Bulgariens und hat eine lange und bewegte Geschichte. Bereits vor 6000 Jahren siedelten hier Menschen, die von Landwirtschaft und Salzgewinnung lebten. Vor der bulgarischen Eroberung im Jahr 708 war die Stadt und die gesamte Region von Thrakern, Persern, Makedoniern, Rom und Byzanz beherrscht worden. 1453 kam sie endgültig unter türkische Herrschaft und blieb – abgesehen von einem kurzen Intervall von 1828-1829 unter Russland – bis 1885 Teil des osmanischen Reiches. Die Bevölkerung von Burgas ist so vielfältig wie die Geschichte: neben der bulgarischen Mehrheit besteht sie überwiegend aus Türken und Roma, aber auch Armeniern, Russen und Nachfahren von Krim- und Kaukasus-Tataren sowie Tscherkessen.
A.N. gehört zur muslimisch-türkischen Minderheit, die vor allem gegen Ende der kommunistischen Herrschaft unter Todor Schiwkow (1954 bis November 1989) unter mannigfaltiger Repression zu leiden hatte: zum Beispiel mussten sie ihre türkischen Namen ablegen, durften kein Türkisch sprechen, und alle türkischen Schulen wurden geschlossen. 380.000 von ihnen wurden in Arbeitslager verschleppt und zur Auswanderung gezwungen, die auch nach dem Machtwechsel im November 1989 anhielt. Über 150.000 muslimische bulgarische Staatsangehörige sind damals ausgewandert, vorwiegend in die Türkei, aber auch in westeuropäische Länder. Auch H. B.s Schwiegervater verließ für einige Jahre Bulgarien und lebte von 2009 bis 2011 in der Keupstraße, ehe er zurück nach Bulgarien ging. Er war es auch, der H. B. bewog nach Köln zu kommen, nachdem er schon 2001 für kurze Zeit in Köln und mehrmals in Berlin gewesen war, wo sein jüngerer Bruder lebte. Zuletzt kam er 2011 nach Köln, zog in die Wohnung seines Schwiegervaters in der Keupstraße und beschloss zu bleiben.
Im November 2013 folgte dann seine Frau Fatma, mit der er seit zwanzig Jahren verheiratet ist und zwei Kinder hat: Tochter Evelyn ist 19 Jahre alt, in Bulgarien verheiratet und hat ein kleines Mädchen, Franceska. Sohn S. ist mit den Eltern nach Köln gekommen. Er ist jetzt zehn Jahre alt und geht in die 2. Klasse der Gemeinschaftsschule An St.Theresia, in der viele bulgarische Kinder sind. Er hat sich in den zwei Jahren sehr gut eingelebt: „Er hat schon gut deutsch gelernt und dolmetscht für die anderen Kinder, und auch für uns!“. A.N. selbst hat noch Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Schon bald nach seiner Ankunft hat er an einem Deutschkurs eines deutsch-türkischen Vereins teilgenommen, der leider wegen Platz- und Lehrermangels nicht mehr stattfindet. So wartet er auf den Beginn eines neuen Kurses, der ab erstem Quartal 2016 vom Jobcenter mit Beteiligung von lokalen Firmen unter dem Namen „Zuper“ in der Schanzenstraße starten und Deutschunterricht und Berufsausbildung vereinen soll. In seiner Heimat hat A.N. während seines Militärdienstes von 1993 bis 1995 im Baugewerbe gearbeitet und war zuletzt Leiter einer Baubrigade. Bei seiner Entlassung bekam er darüber ein Zeugnis, und danach war er als Maler und Anstreicher beschäftigt. Er möchte gern weiter in diesem Beruf arbeiten und sich qualifizieren. Seine Frau hat nach ihrer Ankunft sehr schnell Arbeit in einem türkischen Restaurant in der Keupstraße gefunden, wo sie nach Bedarf arbeitet, in der Regel vormittags und nachmittags je zwei Stunden. Damit ist es für sie nicht möglich an einem Sprachkurs teilzunehmen.
Als A.N. beschloss nach Deutschland zu ziehen, hatte er keine allzu großen Erwartungen. Er findet, dass das Leben hier auf jeden Fall besser als in Bulgarien ist, wo Angehörige der türkisch-muslimische Minderheit weiterhin als Bürger zweiter Klasse angesehen werden. Aber das neue Leben in Deutschland ist nicht einfach. Die Einzimmerwohnung, die für seinen Schwiegervater ausreichte, ist für einen Dreipersonenhaushalt zu klein, und mit 400 Euro Warmmiete pro Monat ist sie zu teuer. Dazu kommen die Probleme mit der allgegenwärtigen Bürokratie, die wegen ungenügender Sprachkenntnisse schwer zu bewältigen sind. Und nicht zuletzt fühlen sie sich in der Keupstraße nicht willkommen: „Letzthin, als ich auf der Keupstraße mit einem türkischen Bekannten sprach, kam ein anderer Türke und warf mir vor: 'Ihr habt die Keupstraße versaut!'“
A.N. ist allerdings der Ansicht, bulgarische Zuwanderer würden oft von Arbeitgebern und Vermietern wirtschaftlich ausgebeutet. Ihm sind Fälle bekannt, in denen der gesetzliche Mindestlohn nicht gezahlt wird oder überteuerte Mieten verlangt werden. „Die Keupstraße ist für ihre vielen guten Restaurants und Bäckereien/Konditoreien bekannt, aber kaum einer ist sich bewusst, dass diejenigen, die unter schlechten Bedingungen die schmutzigste Arbeit machen, vor allem bulgarische Frauen sind!“
Auch stört ihn, dass Jugendliche Drogen – überwiegend Haschisch – konsumieren. An verschiedenen Orten sind hinter den Häusern gebrauchte Spritzen zu finden. In manchen Häusern gibt es Ratten, und generell lässt die Sauberkeit in den Hinterhöfen zu wünschen übrig. Trotzdem lässt es sich in der Keupstraße leben: „Die Keupstraße ist nicht ungefährlich, aber ich selbst fühle mich nicht bedroht. Ich habe ein paar türkische Freunde, und da ich türkisch spreche, kann ich mit allen reden.“ Dennoch, wenn er woanders eine geeignete Wohnung fände, würde er wegziehen.
Er wünscht sich, dass die Stadt die Misstände durch entsprechende Kontrollen bei Vermietern und Arbeitgebern unterbindet. Das Verhältnis zwischen türkischstämmigen Bewohnern der Keupstraße und den in den letzten Jahren zugezogenen Neuankömmlingen, nicht nur Bulgaren, sollte verbessert werden. Auch das wäre ein Thema für „Birlikte“, wo Toleranz und Zusammenhalt gefeiert werden. „Bisher waren wir nicht an der Vorbereitung des Festes beteiligt, aber eigentlich wäre das schon eine Aufgabe für die IG Keupstraße und Birlikte.“
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