Familie Bali

 

 

Um einer Blutrache zu entkommen verließ Mehmet Bali 1964 mit seiner jungen Frau Müzeyyen und dem gerade zwei Jahre alten Muzaffer seine Heimat in der Provinz Mardin in Südostanatolien, im türkischen Teil Mesopotamiens an der Grenze zu Syrien. Ein Bruder seiner Frau arbeitete damals schon seit einigen Jahren bei Bayer in Leverkusen. Er hatte ihnen vorgeschlagen nach Deutschland zu kommen und holte sie in einer Pension im damals jugoslawischen Maribor ab, wo sie wegen fehlender Einreisepapiere für Deutschland gestrandet waren.

 

        

Müzeyyen, Muzaffer und Mehmet Bali   1964 -  türkischer Pass
Müzeyyen, Muzaffer und Mehmet Bali 1964 - türkischer Pass
Müzeyyen, Muzaffer und Mehmet Bali    -   Wohnung Keupstraße, August 2015
Müzeyyen, Muzaffer und Mehmet Bali - Wohnung Keupstraße, August 2015

Zuerst arbeitete Mehmet Bali sechs Monate lang auf einer Baustelle in Langenfeld, ehe auch er bei Bayer angestellt wurde und fünf Jahre lang in der Produktion von Lacken und Farben tätig war. Seine Frau Müzeyyen arbeitete während dieser Zeit bei der Schaumstofffabrik Illbruch in Langenfeld. Der kleine Muzaffer wurde mit seinem Cousin und später mit seiner 1965 geborenen Schwester Güler von verschiedenen Tagesmüttern betreut, wo er schnell die deutsche Sprache lernte. Eine dieser Tagesmütter und ihr Mann waren kinderlos und hätten ihn zu gern adoptiert, was allerdings für seine Eltern undenkbar war.



1966 eröffnete der Bruder der Mutter in Leverkusen seinen ersten Imbiss, später gründete er die erste industrielle Bäckerei von türkischem Brot, die zeitweise mit einer Flotte von 30 bis 40 Lieferwagen die ganze Region versorgte. Später verkaufte er das lukrative Geschäft und ging zurück in die Türkei, während Familie Bali in Deutschland blieb. 1968 waren sie nach Köln-Mülheim gezogen, in eine Mietwohnung im Hinterhof bei Familie Weiß in der Keupstraße 50.

1964 im Hinterhof der Familie Weiß:

Tochter der Familie Weiß, Muzafer und Müzeyyen Bali
Tochter der Familie Weiß, Muzafer und Müzeyyen Bali

 

 

Kurz darauf eröffnete Vater Mehmet hier die erste Eisdiele in der Straße, mit einer Jukebox, die vor allem Jugendliche anzog. Das Geschäft lief unter einem anderen – deutschen – Namen, weil es den Türken damals mit einem Stempel im Pass untersagt war ein Gewerbe zu betreiben. Schon 1969 wurde aus der Eisdiele das erste türkische Restaurant in der Straße.

 

Die Keupstraße 50 im Lauf von 50 Jahren

 

1927
1927


1969
1969


1977
1977


 

 

Mit seinem stets frischen Döner war das Restaurant bald so populär, dass es türkische Gäste aus 150 km Entfernung anzog: aus Dortmund, Essen und dem ganzen Ruhrgebiet. Auch Volkssänger und Schauspieler aus der Türkei kehrten hier ein, wenn sie auf Tournee in der Region waren.

Musiker
Musiker


Sark Restaurant
Sark Restaurant


Restaurant Sark beim Schulfest Holweide
Restaurant Sark beim Schulfest Holweide


 

 

Mutter Müzeyyen arbeitete von Anfang an mit ihm, abgesehen von einer kurzen Unterbrechung, als 1972 ihr drittes Kind und zweiter Sohn, Hakan. geboren wurde. Von 1978 bis 1980 musste sie das Geschäft zwei Jahre lang sogar allein führen, als ihr Mann wegen unerlaubter Ausübung eines Gewerbes denunziert und dazu verurteilt worden war, für zwei Jahre Deutschland zu verlassen, „auf freiwilliger Basis“, wie der Richter feststellte. Es war eine sehr harte Zeit für sie und die drei Kinder, der kleine Hakan war erst vier Jahre alt. Leider zeigte das Ausländeramt keinerlei Verständnis für ihre schwierige Lage und ihre dringende Bitte, man möge ihren Mann zurückkommen lassen: sie könne sich ja scheiden lassen und einen anderen Mann heiraten! Erst Mitte der 80er Jahre wurde das Gesetz geändert und Müzeyyen Bali konnte endlich ein Gewerbe anmelden.

 

1975 war die Familie in eine Mietwohnung der Familie Pohl in der Keupstraße 44 gezogen und hatte das bis dahin von Griechen geführte Lebensmittelgeschäft übernommen. Damals gab es noch eine ganze Reihe deutscher, griechischer und italienischer Geschäfte in der Keupstraße, die alle allmählich türkischen Geschäften Platz machten. Aber das Zusammenleben mit den anderen Nationalitäten, die hier lebten, sei immer sehr harmonisch gewesen. Leider seien viele von den alten Einwohnern längst weggezogen: der Apotheker, der Zahnarzt, Bäcker Renken, die Fahrschule, Fotograf Pönsgen, die Lotto-Annahme und viele andere, „zum Beispiel der Laden mit den Comics, die ich so liebte“, sagt Sohn Muzaffer. Der beste Freund seines Bruders Hakan, der Sohn des Bäckers Renken, ist glücklicherweise nur auf die andere Seite des Clevischen Rings gezogen.

 

Zugegeben, es war nicht immer friedlich und harmonisch. In den 70er Jahren gab es in den deutschen Kneipen öfters Schlägereien „mit Äxten und Messern“. Meist ging es dabei um Frauen, und oft waren Zuhälter beteiligt, anfangs Deutsche, später Türken. In den 80er Jahren kamen dann viele neue türkische und kurdische Zuwanderer, viele davon illegal, und einige von ihnen verdienten ihr Geld mit Drogenhandel und anderen kriminellen Aktivitäten. Es gab auch Schutzgelderpressungen: „Damals hatte die Keupstraße einen sehr schlechten Ruf“. Und dann kam 2004 der Nagelbombenanschlag. Sohn Hakan erinnert sich mit Bitterkeit an die Verhöre durch die Polizisten, die in ihm einen Verdächtigen sahen und ihn dementsprechend behandelten.

10.06. 2004  - am Tag nach dem Anschlag
10.06. 2004 - am Tag nach dem Anschlag


 

 

Seit 1999 sind Mehmet und Müzeyyen Bali in Rente, die leider sehr klein ist. 2001 sind sie in die Keupstraße 124 gezogen: „Wir haben die meiste Zeit unseres Lebens in der Keupstraße verbracht und haben uns hier immer sehr wohl gefühlt!“, sagt Müzeyyen, und sie freut sich, dass ihre Familie in erreichbarer Nähe ist: Tochter Güler wohnt mit ihnen zusammen, Sohn Muzaffer lebt in Troisdorf, Sohn Hakan in Longerich, und die vier Enkelkinder sind auch nicht weit.

 

 

Eva-Maria Bruchhaus

 

30. Juli 2015