Willi Hungenberg, Keupstraße 70

Keupstraße zwischen Kriegsende und Jahrhundertwende

Willi Hungenberg lebt in Köln-Buchforst, er ist 1935 in Köln-Kalk geboren und hat dort seine ersten Lebensjahre verbracht. Seine Familie wurde drei Mal ausgebombt, zuletzt im Oktober 1944 in der Keupstraße 70.

Keupstraße 72–68 im Jahre 1927
Keupstraße 68–72 im Jahre 1927

Bei dem Angriff haben sie alles verloren und wurden nach Sachsen evakuiert, in einen Ort in der Nähe von Wittenberg. Dort erlebten sie den Einmarsch der Roten Armee und das Kriegsende. Sein Vater war im Krieg gefallen, und im Juni 1946 kehrte er mit seiner Mutter, den Großeltern und einer Tante schwarz über die Grenze und dann zurück nach Köln-Mülheim. Sie zogen wieder in die Keupstraße. Wie sah die Keupstraße damals aus? „Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, die Keupstraße war fast vollständig zerstört. Es stand kaum ein Haus mehr, und die Straße war mit Schutt übersät, überall lagen Trümmer herum. Meine Mutter hat bei der Aktion Trümmerfrauen mitgemacht, und ich auch. Für einen sauber geputzten Ziegelstein bekam man 10 Pfennige!“

Das ging so ein Jahr lang, dann war alles sauber. Da es überhaupt keinen Verkehr gab, wurde die Straße für die Kinder zum Spielplatz, wo sie Roller fuhren, Treibball und Fußball spielten, sowie ein Spiel, das Schwenkelschleuder hieß und aus alten Konservendosen gebastelt war – es gab überhaupt keinen Verkehr. Willi Hungenberg erinnert sich noch gut an das erste Fahrzeug, das nach dem Krieg durch die Keupstraße fuhr: Anfang der 50er Jahre kam ein Pferd mit Wagen des Transportunternehmens Fa. Hupperts, das Felten & Guillaume belieferte.

Zuerst wohnte die Familie im Hinterhaus bei der Tante Zander, deren Mann 1949 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte. Vom Haus Nr. 70 stand noch etwas, und 1948 baute der Hauseigentümer das Vorderhaus wieder auf. Die Familie Zander und die Großeltern zogen in den Oberstock, Willi Hungenberg und seine Mutter blieben im Hinterhaus wohnen, „wo wir es uns sehr nett gemacht hatten, mit einem hübschen kleinen Garten. Dort wuchs Gemüse, und wir hatten auch Kaninchen.“ Vor allem erinnert er sich an den Tabak, der dort mehr oder weniger illegal angepflanzt und verarbeitet wurde. Nachdem er getrocknet war, wurde er gerollt und mit einer kleinen Maschine in feine Streifen geschnitten.

Keupstraße 70-76 ca. 1976
Keupstraße 70-76 ca. 1976

1962 heiratete er und verließ die Keupstraße, aber seine Mutter hat hier bis zu ihrem Lebensende gewohnt. Nachdem er eine Stelle bei Felten & Guillaume bekommen hatte, kam er weiterhin jeden Arbeitstag nach Mülheim und ging zum Mittagessen zu seiner Mutter in die Keupstraße. Schon sein Großvater hatte bei F & G gearbeitet, 50 Jahre lang! „Er hat immer gesagt: Junge, wenn du bei F & G arbeitest, hast Du ausgesorgt!“ Willi Hungenberg war nach seiner Ausbildung bei F & G zuerst in der Abteilung Maschinenbau und danach bis zum Renteneintritt als Gruppenleiter in der Konstruktionsabteilung beschäftigt. Damals wurden viele junge Leute auch ohne Berufsausbildung angestellt, sie wurden angelernt und konnten aufsteigen.

Dann kamen immer mehr Geschäfte in die Keupstraße: „ Ich erinnere mich noch gut an die ersten Geschäfte, die eröffnet wurden, Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre. Zum Beispiel neben unserem Haus das Geschäft Osterroth für Lederwaren, oder das Radio- und Schallplattengeschäft der Fa. Hochstätter. Als Deutschland 1954 die Fußball-WM gewann, gab es da eine öffentliche Fernsehübertragung – wir standen alle vor dem Geschäft auf der Straße, hörten und sahen zu und fieberten mit.“ Es entwickelte sich eine sehr lebendige Geschäftsstraße, mit Bäckereien, Lebensmittelgeschäften, allen möglichen Fachgeschäften und Kneipen. Bis 1967/68 war es eine rein deutsche Straße. Dann kamen die ersten Italiener, Spanier und Griechen, die meist bei F & G und auch bei KHD arbeiteten. Ein spanischer Arbeiter wohnte auch kurz im Haus der Hungenbergs. Anfang der 70er Jahre kamen dann die ersten Türken, die alle auch bei F & G oder bei Klöckner-Humbold-Deutz arbeiteten. Es waren keine jungen Leute, eher ältere, einige von ihnen waren seine Kollegen bei F & G. „Sie waren sehr bescheiden und freundlich. Meine Mutter fand sie sehr höflich. Sie war damals schon ziemlich gebrechlich – sie hatte Herzprobleme und Wasser in den Beinen – und wenn wir rausgingen, musste ich sie stützen. Wenn ich mit meiner Mutter auf dem Fußweg lief, dann machten sie Platz für uns.“

Damals wohnten in der Keupstraße alle Nationalitäten neben den deutschen Anwohnern, es gab keine Probleme, auch nicht bei der Arbeit. Im Haus Nr. 70 hatte die Fa. Steinberg eine Stoffhandlung und Änderungsschneiderei eröffnet, in der Italienerinnen und Griechinnen arbeiteten, die auch in der Keupstraße wohnten. „Alle lebten friedlich zusammen, nach dem kölschen Motto 'Jeck loss Jeck elans'.“ Aber mit der Zeit veränderte sich das Zusammenleben:

„Es driftete auseinander. Es lag sicher daran, dass die Kultur der Italiener, Spanier und Griechen ja der unseren näher ist als die der Türken. Die Türken waren Muslime und hatten ganz andere Sitten, und weil sie keinen Alkohol tranken, gingen sie nicht in die Kneipen, sondern sie eröffneten Teestuben für Männer.“ Sie gingen auch nicht zum Bäcker um Brötchen zu kaufen, sondern eröffneten ihre eigenen Bäckereinen, die Fladenbrot buken, was wiederum die Deutschen nicht aßen. Allmählich verschwanden die deutschen Geschäfte und es kam zu einem Bevölkerungsaustausch: die Türken investierten ihre Ersparnisse und kauften Wohnungen und Häuser in der Keupstraße. Sie eröffneten ihre eigenen Geschäfte und Restaurants, es war ein Prozess, der sich über Jahre hinzog, bis die Keupstraße das Gesicht bekam, das sie heute zeigt.

Keupstraße 72 (Zugang Tor) bis Nr. 68 (Wiederaufbau) in 1956
Das Haus Keupstraße 70 im Januar 2015

Blick in die 2. Hälfte der Keupstraße - die obere Keupstraße-, ab Nr. 19 (links) mit Abzweig zur Schanzenstraße und Nr. 36 (rechts)  im Januar 2015.

Keupstraße 70 im Januar 2015.